Mentale und körperliche Ansätze zur Vorbeugung und Behandlung von Auftrittsängsten
Artikel aus Üben & Musizieren 2/2024
Auftrittsängste gehen uns alle an. Sie treten in verschiedensten Situationen und unterschiedlichsten Formen auf. Von Übelkeit drei Tage vor der Darbietung bis zu zitternden Händen, Kloß im Hals und Störgedanken ist Auftrittsangst so individuell wie diejenigen, die von ihr betroffen sind. Auftrittsängste müssen jedoch nicht schicksalhaft hingenommen werden. Sowohl auf mentaler als auch auf körperlicher Ebene gibt es Wege, die Angstspirale zu durchbrechen.
Erfreulicherweise leben wir in einer Zeit, in der über seelische Leiden wie Depressionen und Ängste zunehmend gesprochen wird. Dennoch ist das Thema Auftritts- und Prüfungsangst weiterhin schambesetzt, und Betroffene zögern häufig zu lange, bis sie sich Hilfe suchen.1 Daher wäre geradeunter Lehrenden im Berufsfeld Musik eine höhere Sensibilität für dieses Thema und ein offenerer Umgang mit unter Leistungsdruck auftretenden Stresssymptomen bzw. Ängsten wünschenswert und hilfreich. Auch jenseits von Bühnenauftritten können bestimmte Situationen eine Art Auftrittsstress auslösen – wie ein Anruf bei Behörden, eine Wortmeldung in großer Gruppe, Prüfungen, Referate oder das erste Date. Schülerinnen oder Schüler erleben Auftrittsstress, wenn sie vor der Lehrperson und ihren Mitlernenden Leistung erbringen müssen und sich damit einer Bewertungssituation aussetzen. Die Lehrperson kann Stress erleben, weil sie sich in ihrer Autoritätsrolle unter „prüfender Betrachtung durch andere Menschen“ fühlt.2 Verstärkt erlebt wird dies in Prüfungssituationen wie Lehrproben, wenn die Lehrkraft sowohl gegenüber der prüfenden Person als auch gegenüber den SchülerInnen Leistung erbringen soll. Auftrittsangst kann hier zu dem Gefühl von Kompetenzverlust beim Unterrichten führen.
Leistung unter Druck
Ob Leistungsdruck im Moment des „Auftritts“ als fordernd, stressig oder beängstigend wahrgenommen wird, ist sehr individuell und hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. „In Drucksituationen sind auch selbstbewusste Menschen oftmals so angespannt, dass sie beginnen, an sich zu zweifeln. Diese Zweifel manifestieren sich dann nicht selten in ungewohnten Leistungstiefs, und das in Momenten, in denen eigentlich Höchstleistungen erwartet werden.“3 Von Auftrittsängsten betroffene Menschen leiden meist unter einem situationsbezogenen Mangel an Selbstwert.4 Negative Auftrittserfahrungen brennen sich tief in das Körpergedächtnis ein und entziehen sich dem Zugriff durch das bewusste Denken. So können sich Auftrittsängste dauerhaft manifestieren. „Auftrittsangst kann so stark beeinträchtigen, dass eine Karriere als Musiker abgebrochen werden muss oder gar nicht erst angestrebt wird“, so Sabine Meyer im Geleitwort zum Behandlungsleitfaden „Auftrittsängste“.5
Mentales Training
Bewertende Phänomene und zweifelnde Gedanken („Vögelchen im Kopf“ oder „innerer Kritiker“) ohne körperliche Symptome, die bei vielen Menschen regelmäßig zu Leistungsminderung in Auftrittssituationen führen, werden leider selten als Teil der Lampenfiebersymptomatik wahrgenommen, sind jedoch Wegbereiter für Auftrittsangst. Hier können Übungen aus dem mentalen Training Abhilfe schaffen. Dieses umfasst eine Bandbreite von Übungen zur Entspannung, Körperwahrnehmung, Konzentration und Motivation sowie Visualisierungstechniken, die sowohl für das Training von Bewegungsabläufen als auch für die Entwicklung mentaler Stärke genutzt werden. Auch das Zusammenspiel von Ernährung, Schlaf, Freizeit und Erholung sowie von psychologischen Komponenten wird betrachtet. Das mentale Training von Bewegungsabläufen (Mentales Üben) fördert nicht nur die Abrufbarkeit von Leistung unter Druck, sondern ist auch als Prophylaxe von Auftrittsstress und körperlichen Problemen beim Musizieren wertvoll.6 Im Leistungssport ist mentales Training seit Jahren Standard. Trainingsmethoden und Übungen lassen sich gut auf die Musik übertragen, denn im Wesentlichen geht es auch hier um Bewegungspräzision und Abrufbarkeit der trainierten Abläufe unter Leistungsdruck. Die im Folgenden skizzierten Übungen aus dem Mentaltraining wirken beruhigend und ausgleichend auf das Nervensystem und fördern die Konzentrations und Leistungsfähigkeit des Gehirns.
Bewusstes Atmen
Beobachten Sie die eigene Atmung ohne Einflussnahme. Es geht vor allem darum, nach einem tiefen Ausatmen den Körperimpuls für das erneute Einatmen bewusst wahrzunehmen. Meistens beruhigt sich der Atem im Laufe der Übung allein durch die bewusste Wahrnehmung. Bewusstes Atmen kann auch als Unterstützung z. B. für eine ruhige Bogenführung eingesetzt werden.
Entspannungsoasen
Bei Wahrnehmungsübungen richten wir für ein bis zwei Minuten die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung einer bestimmten Sinnesebene: Naturbilder, sanfte Geräusche wie Vogelzwitschern oder Meeresrauschen, angenehme Düfte, Geschmäcker, Körpergefühl. Dabei aufkommende Gedanken lassen wir unkommentiert weiterziehen. Die kleinen Entspannungsoasen wirken Dauerstress entgegen und trainieren unsere Fähigkeit, Anspannung loszulassen.
Innere Bilder
Bilder erwecken Emotionen und damit Körpergefühle. Mit diesem Wissen haben wir ein mächtiges Werkzeug zur Hand, dank dessen wir angstauslösende Bewegungsabläufe (z. B. Tonsprünge) und stressbesetzte Situationen in unserer inneren Vorstellungskraft mit positiven Gefühlen anreichern können. Wenn wir beim Oktavsprung an lustige Ballons oder Schmetterlinge denken, fühlt sich der Körper leichter an und der Bewegungsablauf gelingt besser. Diese Technik macht schon Kindern Spaß und ist in jedem Alter wirkungsvoll.
BrainGym
Die Methode BrainGym nutzt Überkreuzbewegungen und das Drücken bestimmter Körperpunkte zur Förderung von Konzentration und Koordination. Eine Sammlung von BrainGym-Übungen für den Instrumentalunterricht findet man in dem Buch MusicGym der Flötistin Furugh Karimi7. Der Einsatz der kurzen Übungen sorgt oft für überraschende Fortschritte und bereichert auf kreative Weise den Unterricht.
Angstbearbeitung über den Körper
Der Zusammenhang von Gedanken, Emotionen und Körperwahrnehmung ist faszinierend. Stress wird von Gedanken ausgelöst und erzeugt negative Gefühle, die schließlich auf körperlicher Ebene wahrgenommen werden. Gleichzeitig speichert unser Körper Emotionen, die im Zusammenhang mit bestimmten Bewegungen abgerufen werden. Verantwortlich dafür sind die in Gelenken und Muskulatur vorhandenen Propriozeptoren, die als Teil unserer Tiefensensibilität „Informationen über Bewegungen, Haltung und die Position unseres Körpers im Raum“8 vermitteln. Wir können einerseits emotionale Zustände an der Körperhaltung erkennen, andererseits durch „gezielten Einsatz unserer Skelettmuskulatur […] unsere Emotionen beeinflussen“.9 Diese Erkenntnis (Embodiment) ermöglicht es uns, mit Hilfe von Körperarbeit Stress zu reduzieren, Koordination und Konzentration zu verbessern und unsin eine dem Auftritt zuträgliche emotionale Verfassung zu bringen. Die Prozess- und Embodiment-fokussierte Psychotherapie-Methode PEP wurde vom Psychiater Michael Bohne entwickelt und in eine klare, einfach zu verstehende Struktur gefasst. Die Methode kombiniert Affirmationen zur Selbstakzeptanz mit Körperinterventionen wie „Klopfen“10 und „Kurbeln“ (kreisrundes Massieren) an bestimmten Körperpunkten.11 PEP wird erfolgreich gegen Ängste und Phobien sowie in der Traumatherapie, bei Depressionen und in der Suchtbehandlung eingesetzt.
Hilfe zur Selbsthilfe mit der Methode PEP®
Das PEP-Klopfschema (Abbildung hier) kann mit einem geschulten PEP-Coach erlernt und im Akutfall (hoher Stresspegel bzw. körperliche Symptome von Angst) selbstständig angewandt werden. Unter Anleitung wird eine erlebte oder bevorstehende (beängstigende) Prüfungs- oder Auftrittssituation in der inneren Vorstellung aktiviert, bis ein gewisser Stresspegel spürbar ist. Dieser Zustand wird in mehreren Runden „beklopft“, bis die körperlichen Symptome des Stresses nachlassen oder die visualisierte Situation sich weiter entfernt. Betroffene fühlen sich durch die Klopfanwendung im Allgemeinen deutlich erleichtert. Die PEP-Klopftechnik kann auch präventiv zur Stressreduktion angewandt werden. Ein „Selbstwerttraining mit PEP“12 im Rahmen eines PEP-Coachings ist hilfreich gegen negative Gedanken, Zweifel oder selbsterzeugten Leistungsdruck (Perfektionismus). Die Stressgedanken werden zu Beginn gesammelt und aufgelistet. Durch das Aussprechen von Selbstakzeptanzsätzen und gleichzeitigem „Kurbeln“ werden die negativen Gedanken neutralisiert. Anschließend werden neue, stärkende Sätze erarbeitet. Die Stärkungssätze werden über einige Wochen täglich mehrmals laut ausgesprochen und wiederholt, bis das Gehirn die neuen Gedankenmuster vollständig angenommen hat. Bereits nach ein bis zwei PEP-Sitzungen können Betroffene sich besser auf ihr eigenes Tun konzentrieren, emotional bei der Musik bleiben und das Musizieren wieder genießen.
1 Auftrittsangst wird unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten als eine Untergruppe der sozia len Angst klassifiziert. Bei den Betroffenen tritt diese spezifische Angst ausschließlich im Zusammenhang mit „Leistungssituationen“ auf („performance-only subtype“). Laut ICD 10 ist der Auslöser (wie bei der sozialen Phobie) die „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen“. Der Behandlungsleitfaden Auftrittsängste bei Musikerinnen und Musikern empfiehlt bei schwerwiegenden Auftrittsängsten eine Verhaltenstherapie. Diese wird von den Krankenkassen bezahlt, allerdings muss mit langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz gerechnet werden. Vgl. Mumm, Jennifer et al.: Auftrittsängste bei Musikerinnen und Musikern. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsleitfaden, Göttingen 2020, S.17 ff.
2 vgl. Mumm, S. 19.
3 Bergmann, Mark/Reinhardt, Christian: Der Erfolgsmuskel. Mentales Training, das dich ans Ziel bringt, Igling 2019, S. 132.
4 vgl. Mumm, S. 24 ff.
5 vgl. ebd., S. 11: Sabine Meyer: Geleitwort.
6 vgl. Hildebrandt, Horst: „Üben und Gesundheit“, S. 72 f. und Pohl, Christian A.: „Mentales Üben“, S. 287 ff. in: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben, Wiesbaden 2006. 7 Karimi, Furugh: MusicGym. Effektiv üben und unterrichten – stressfrei musizieren, Wiesbaden 2016.
8 Krämer, Tanja: „Der sechste Sinn“, www.dasgehirn.info/wahrnehmen/fuehlen/der-sechste-sinn, 2023 (Stand: 5.3.2024).
9 Storch, Maja: „Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde“, in: Storch, Maja et al.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 2017, S. 49
10 Bei den 16 Klopfpunkten handelte es sich ursprünglich um Anfangs- und Endpunkte der Meridiane. Bohne distanzierte sich im Lauf der Zeit von der energetischen Komponente seiner Methode. Vgl. Bohne, Michael: Psychotherapie und Coaching mit PEP. Prozess- und Embodiment- fokussierte Psychologie in der Praxis, Heidelberg 2021, S. 22 ff.
11 vgl. ebd., S.107 ff. Eine Anleitung zur Selbstbehandlung mit PEP findet sich auf der Website von Michael Bohne unter www.innen-leben.org/klopfen-gegen-angst (Stand: 5.3.2024).
12 vgl. Bohne, S. 83 ff.3 Bergmann, Mark/Reinhardt, Christian: Der Erfolgsmuskel. Mentales Training, das dich ans Ziel, Igling 2019, S. 132.