Mentales Üben wirkt präventiv gegen
Musikerdystonie und andere berufsbedingte Erkrankungen

Berufskrankheit „Musikerdystonie“

In der Fachzeitschrift der DGfMM (Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin – Ausgabe 2-2024) ist aktuell ein Artikel über die Entstehung des Krankheitsbilds „Musiker-Dystonie“ zu lesen. Die Symptomatik „fokale Dystonie“ entwickelt sich über Jahre hinweg und mündet im Allgemeinen in der Berufsunfähigkeit. Aufgrund der spezifischen Lähmungen von Muskeln der Finger oder (bei Bläsern) der Lippen wird es für den Musiker, die Musikerin nach Jahrzehnten des Übens plötzlich unmöglich, ihr Instrument mit der nötigen Präzision zu spielen und damit ihren Beruf auszuüben. Von dieser „Bewegungsstörung mit Verlust der feinmotorischen Kontrolle von jahrelang geübten Bewegungsabläufen am Instrument“ (Quelle: Charité) war vermutlich auch Robert Schumann betroffen.

Inzwischen hat das Team der Forschenden am Institut für Musikermedizin in Hannover (Dr. Edoardo Passarotto, Dr. Johanna Doll-Lee, Prof. Dr. Altenmüller, Prof. Dr. André Lee) herausgefunden, „dass das Übeverhalten ein Risikofaktor für das Auftreten von Musikerdystonie darstellen kann“. Zum einen wurde deutlich, dass meist ein erheblicher Anstieg der Übezeit die Erkrankung auslöste. Vor allem aber scheint es relevant zu sein, wie variantenreich und mit wie vielen Pausen das Instrument geübt wird. Grund genug, sich über Qualität und Quantität des Übens immer wieder Gedanken zu machen und seine Übe-Gewohnheiten einem regelmäßigen Check zu unterziehen. (Wesentliche Hinweise dazu enthalten meine regelmäßigen online-Workshops „mentales Üben“.)

Mentales Üben – Chance zur Heilung und Vorbeugung

Mentales Üben gehört zu den wenigen Methoden, die eine Therapie der Dystonie durch Retraining (bewusstes Wiedererlernen der verlorenen Bewegungsfähigkeit) erfolgreich begleiten können. Beim mentalen Üben werden Bewegungen „visualisiert“, d.h. die Bewegung wird rein in der inneren Vorstellung vollzogen, gespürt und manchmal auch ganz konkret gesehen. So können die über Jahre automatisierten Bewegungen wieder ins Bewusstsein geholt, Fehler erkannt und neue, „berichtigte“ Bewegungen über das Denken behutsam in den Körper geleitet werden.

Viel wichtiger ist jedoch das Potenzial zur Vorbeugung vor fokaler Dystonie und anderen Erkrankungen des Bewegungssystems, das im mentalen Üben steckt. Mental zu üben, bedeutet nicht nur, Bewegungen im Innern bewusst wahrzunehmen und zu organisieren. Beim Üben in der inneren Vorstellung werden Klang, Tonhöhe, musikalische Gestaltung, Erfassung von Strukturen, Rhythmus und Organisation der Abläufe (Fingersatz, Bogenstrich, Pedalisierung etc.) bewusst und detailliert vorbereitet.

Die Parameter können einzeln oder in verschiedenen Kombinationen in den Fokus genommen werden. Tempi sind flexibel an die individuelle Vorstellungskraft anpassbar und werden dort sukzessive erhöht, bis sie der musikalischen Idee entsprechen. Das Instrument wird erst wieder bedient, sobald alle wesentlichen Elemente verstanden sind und es möglich ist, eine Passage, einen Takt, oder eine bestimmte Akkordfolge fehlerlos zu „denken“. Mentales Üben kann sowohl zum Üben einzelner Griffwechsel, Läufe oder Tonfolgen genutzt werden wie auch zum Erlernen und Gestalten ganzer Werke. Die Anwendung richtet sich dabei nach den individuellen Bedürfnissen und der Belastungsfähigkeit der einzelnen Person.

Training der Tiefensensibilität und mentales Bewegungstraining

Das „Denken von Bewegungen“ (mentales Bewegungstraining) fördert die Entwicklung der Tiefensensibilität, d.h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers, seiner Aufrichtung und der Position der Gelenke im Raum. Das Training der Tiefensensibilität wirkt sich immer positiv auf die Spieltechnik am Instrument aus. Da ungünstige Bewegungsmuster jetzt durch den „Blick von innen“ entdeckt werden können, steigt die intrinsische Motivation, an einer Lösungsfindung zu arbeiten.

Tatsächlich führen (insbesondere angeleitete) Visualisierungen problembehafteter Passagen sehr oft dazu, dass spontan intelligente und nachhaltige Lösungswege gefunden werden, ohne dass eine fachkundige Lehrkraft dafür benötigt wird.  Hier wird die betroffene Person durch die Aktivierung ihrer hoch präsenten Vorstellungskraft zur ihrer eigenen Lehrperson. Insbesondere die Entwicklung einer klaren Zielvorstellung und die Erkenntnis dessen, was der eigene Körper für die unbeschwerte Bewegungsausführung braucht, führen dazu, dass ergonomische und energiesparende Bewegungen völlig eigenständig entwickelt und anschließend nicht mehr vergessen werden.

Durch mentales Üben über sich hinauswachsen

Mentales Üben besteht also nicht nur aus der Vorstellung dessen, was bereits möglich ist. Ganz großes Potenzial steckt in der Fähigkeit, auf drei Ebenen (Klangvorstellung, Emotion und Körper) ein ideales Klangerlebnis zu aktivieren, das alles übertrifft, was die übende Person bisher mit ihrem Instrument darbieten konnte. Mit Hilfe mentalen Trainings und Embodiment wird dafür zunächst ein allgemeiner mentaler und körperlicher Zustand der Wachheit, der körperlichen Durchlässigkeit und der Bewegungsbereitschaft hergestellt, mit dem eine Klangerzeugung und Geläufigkeit auf höchstem Niveau möglich ist.

Die Vorbereitung des Körpers durch Visualisierung und die Aktivierung der Hirntätigkeit durch bestimmte Bewegungsübungen befreit das Bewegungssystem von Stress, d.h. die Muskeln lösen sich und können Bewegungen leicht und mühelos ausführen. Das musikalische „Produkt“ (Klang, Geläufigkeit, Treffsicherheit) gelingt dann meist spontan auf überraschend hohem Niveau. Folge ist „Freude statt Frust“, was wiederum die Entspannung und positive Energie beim Üben steigert. 

Drei Gründe für mentales Üben

Mentales Üben wirkt also auf dreierlei Weise vorbeugend gegen Berufsunfähigkeit durch Bewegungsblockaden, Verschleiß von Sehnen und Gelenken oder fokale Dystonie:

erstens durch eine Verlagerung von produktiven Übezeiten auf den inneren Raum (Entlastung des Körpers),

zweitens durch das Bewusstmachen von Bewegungen durch Stärkung der Tiefensensibilität und

drittens durch die gezielte mentale Vorbereitung auf ein positives und freudvolles Erleben des eigenen Übens.

Interessiert an mentalem Üben und Übe-Check?

In meinen online-Workshops „Mentales Üben“ erhältst du die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Musizierenden über Herangehensweise, Struktur und Vielfalt des Übens. Außerdem erfährst du, wie du mentales Üben in deinen Arbeitsalltag integrieren kannst, wie du deinen idealen Musizierzustand aktivierst und wie es funktioniert, deine Bewegungen zu „sehen“.