oder wie ich zum Mentaltraining kam

Etwas d r ä n g t uns zum Musizieren,
t r e i b t uns zum Instrument und
f e s s e l t uns an dieses, etwas
n ö t i g t uns zu singen oder zu tanzen bzw. auch Musik hören zu wollen, gleich ob im häuslichen Rahmen oder im Konzertsaal.

Peter Röbke – VOM HANDWERK ZUR KUNST

In den letzten 14 Monaten habe ich mir oft die Sinnfrage gestellt. Die Sinnfrage in Bezug auf die Musik. Macht es noch Sinn, zu musizieren, wenn alle Konzerthäuser geschlossen sind? Seit meinem 5. Lebensjahr spiele ich Geige und wenig später habe ich angefangen, Klavier zu lernen. Zu Hause haben wir gesungen, in verschiedenen Zimmern zeitgleich unsere Instrumente geübt und miteinander Kammermusik gemacht. Um mich herum war immer Musik und ein Leben ohne Geigespielen für mich nicht vorstellbar.

Und plötzlich ist es still. Singen in der Öffentlichkeit verboten, Orchester-Probenräume ähneln Hochsicherheitszonen und zum Wort Applaus haben wir das Geräusch bereits vergessen. Hat es da noch Sinn, weiter jeden Tag Geige zu spielen? Wird mein Musizieren je wieder einen Saal zum Toben bringen?

Mein vorletztes vor-Corona-Live-Konzert fand im Concertgebouw in Amsterdam statt. Es war ein wunderbares Programm mit einem hervorragenden Solisten und unserem (damals noch nicht) Chefdirigenten. Holländisches Publikum ist sehr enthusiastisch, und so wurden wir auch in diesem Konzert mit standing ovations gefeiert. Unvergessliche Konzerte, Gänsehautmomente, Stunden, in denen man die Welt um sich herum vergisst und sich mit seinen Mitspielern und dem Publikum eins fühlt. Müde und erfüllt kommt man von solchen Konzerten nach Hause und zehrt noch lange Zeit von diesem einzigartigen Gefühl des musikalischen Höhenflugs.

Letztes Jahr war alles anders. Im Bus die furchtbaren Nachrichten aus Bergamo, später erfuhren wir dann, dass es noch am selben Tag im Concertgebouw einen schlimmen Ausbruch der neuen Krankheit unter 100 Chormitgliedern gegeben hatte. Wir waren dem Grauen entkommen, aber was folgte, hat uns in eine graue Welt der Sinnlosigkeit gestürzt, von der wir noch immer hoffen, dass sie irgendwann ein Ende haben wird. Musik ohne Publikum – wer hätte das je für möglich gehalten!

Wie eine treue Freundin hat meine Geige mich durch die lange Zeit der Pandemie begleitet. Viele Stunden haben wir gemeinsam verbracht und wieder und wieder versucht, irgendeinen Sinn darin zu finden, dass wir ohne Konzerte und Ziele unendlich Zeit haben. Das war nicht immer leicht. Ich erwischte mich dabei, beim Geigespielen gedanklich Nachrichten zu wälzen und die Welt zu retten. Meine ständig kreisenden Gedanken ließen mich von Tag zu Tag mehr an meinen geigerischen Fähigkeiten zweifeln – bis ich eines Tages den Entschluss fasste, über das Lernen zu lernen. Auf dem Weg über das Studium neurologischer Fachbücher, eine Mentaltraining-Ausbildung und viele Stunden Tiefenentspannungs- und Wahrnehmungsübungen habe ich begonnen zu verstehen, was für eine fantastisch SINN-volle Tätigkeit Musizieren ist. Ja, Musik ist tatsächlich LEBENS-relevant.

Das Geigespielen genieße ich nun mehr als zuvor. Ich habe mir die Sinnfrage gestellt und bin bei den Sinnen angekommen. Ich mache Musik, weil ich es brauche, weil es mir guttut. Musik machen ist etwas Wunderbares. Sich in Klänge vertiefen, nach Harmonien suchen, Klang aus der Bewegung entwickeln, körperliche Entspannung hörbar machen, vielschichtige Gefühle durch Melodien zum Ausdruck bringen – das alles kann Musik, überall und losgelöst von der Verpflichtung, für andere und mit anderen zu spielen. In der sinnlosen Zeit von Kulturlockdown und social distancing habe ich in der Musik meine unwahrscheinlich tröstliche und wirklich sinnvolle Betätigung (wieder)gefunden.

Mentaltraining und Musik – beide Tätigkeiten beschäftigen sich mit den Sinnen, mit unserer Wahrnehmung, unserer Konzentration und der Einheit von Körper und Geist. Durch unser Instrument oder unsere Stimme wird beim Musizieren hörbar, wie wir uns fühlen, was wir wahrnehmen, wie unser Körper fühlt. Im Mentaltraining wiederum wenden wir Techniken an, die uns in unsere innere Welt führen, in eine Welt der Kreativität, der Träume und des bewussten Wahrnehmens. Wir lernen, was unser Gehirn braucht, um gesund zu bleiben, und wie wir mit unserem Denken positive Energien freisetzen können. Ein gutes Mentalcoaching fühlt sich an wie ein gelungenes Konzert. Etwas unbegreiflich Kraftvolles geschieht mit uns, Energien von zwei oder mehreren Personen verbinden sich, und wir fühlen uns stark und positiv. Je mehr ich durch das Mentaltraining über die Zusammenhänge von Körper und Psyche lerne, desto mehr verstehe ich, warum ich für mein eigenes Wohlergehen musizieren muss.

Kreativität ist wie Medizin für die Psyche. Jeder Mensch sollte seine Kreativität ausleben dürfen. Musik ist Lebenselexier, Wahrnehmungstraining, Körperschulung. Und wenn sich Musikunterricht als Vermittlung zwischen Innen- und Außenwelt versteht, als Medium, sich selbst auszudrücken, dann wird Musik vielen Kindern und Erwachsenen ein Instrument geben, um der Sinnlosigkeit des täglichen Lebens etwas entgegenzusetzen, der Sinn-losigkeit die entsteht, weil wir in der Hektik des täglichen Lebens vergessen wahrzunehmen, was uns eigentlich zu Menschen macht.