Selbstwahrnehmung – Erste Hilfe gegen Stress

Veröffentlicht von Felicia Terpitz am

Menschen, die sich in Phasen von Depression oder Burnout befinden, beschreiben, dass sie sich leer fühlen, sich nicht spüren können, keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben. Sie nehmen sich selbst wie aus einer Beobachterposition wahr und dissoziieren. Ihre Selbstwahrnehmung ist gestört.

Dieser Zustand ist für niemanden wünschenswert. Wie kommt es soweit?

Burnout ist ein (depressiver) Zustand, der im Laufe der Zeit durch Stress, Überlastung und zu viel Agieren im „Außen“, also für andere Menschen, für Dinge, für eine Firma, für die Familie entsteht. Jeder Mensch erlebt früher oder später im Leben Phasen von Zeit- und Leistungsdruck, Phasen, in denen eine Angelegenheit derart Vorrang hat, dass die eigenen Bedürfnisse hintanstehen. Kurzfristig kann das für einen wichtigen Termin, eine Hausarbeit mit Abgabefrist oder einen Bühnenauftritt sein. Prüfungen, Arbeitssuche, Krankheit (auch naher Angehöriger), ein Unfall oder ein eklatanter Schaden im Eigenheim können längere Phasen von Stress auslösen. In solchen Zeiten wirken auch die damit verbundenen Emotionen – Hoffnung, Enttäuschung, Sorge und Angst – stressverstärkend.

Elternschaft ist berühmt-berüchtigt für die schlaflosen Nächte mit (kleinen) Kindern, Sorgen und Zeitnot z.B. durch die Doppelbelastung bei gleichzeitiger Berufstätigkeit. Diese Lebensumstände können über mehrere Jahre Stress auslösen. Und wer dann zeitgleich Karriere machen, ein Haus bauen und mit der ganzen Familie umziehen möchte oder muss, sollte regelmäßig Erholungszeiten einplanen. Andernfalls ist Dauerstress vorprogrammiert und der Weg in den Burnout auch nicht mehr weit. Signale des Körpers für zu viel Stress können auch längere Krankheitsphasen, Rücken- Kopf- und Bauchschmerzen oder Bluthochdruck sein. Es ist dann, als ob sich der Körper Gehör verschaffen wollte.

Stress, der Boost-Button des Nervensystems

Genau genommen ist Stress kein Problem, sondern eine leistungssteigernde Sonderfunktion des Nervensystems. Der menschliche Organismus ist dafür gemacht, sich Herausforderungen zu stellen, Höchstleistung zu bringen und sich körperlich wie auch geistig anzustrengen. Für extreme Anforderungen hat das Nervensystem den Boost-Button „Stress“ vorgesehen. Man sollte ihn nur nicht zu oft benutzen. Denn auch der Mensch ist kein Perpetuum mobile. So wie eine Batterie sich durch hohe Beanspruchung entleert oder ein Fahrzeug bei schneller Fahrt mit voller Beladung viel Sprit verbraucht, hat der Mensch begrenzte Kapazitäten, um Höchstleistung zu bringen.

Was spielt die Selbstwahrnehmung da für eine Rolle?

Im Stress aktiviert der Körper alle Energiereserven, um sich komplett einer wichtigen Angelegenheit widmen zu können. Dafür werden bestimmte Hormone ausgeschüttet wie z.B. Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol. Sie sorgen für eine bessere Durchblutung der Muskeln, einen höheren Herzschlag und verbesserte Sinneswahrnehmung. Die Reaktion „Stress“ des Nervensystems ist eigentlich dafür da, in lebensbedrohlichen Situationen weglaufen oder Angreifer abwehren zu können. Das Hormon Cortisol sorgt dabei dafür, dass die Schmerzwahrnehmung unterdrückt wird. Auch für Krankheiten ist unter Stress „keine Zeit“: das Immunsystem wird durch Cortisol ebenfalls an der Arbeit gehindert.

Der Zustand Stress bewirkt also, dass wir unsere Selbstwahrnehmung unterdrücken und unsere Körpersignale überhören. Wenn wir das zu lange im Stress-Modus bleiben, der ja eigentlich nur für besondere Momente vorgesehen ist, meldet sich der Körper irgendwann mit Krankheit und Erschöpfung. Dem können wir durch regelmäßige bewusste Wahrnehmung unseres Körperzustands vorbeugen.

Auf die Balance zwischen Stress und Erholung kommt es an

Stressphasen müssen regelmäßig durch Erholungsphasen ausgeglichen werden. Das deutsche Arbeitsrecht hat das längst eingepflegt und schreibt vor, wie viele Stunden abhängig Beschäftigte täglich maximal arbeiten dürfen und wie die minimale Erholungszeit zwischen zwei Arbeitsschichten zu sein hat. Und hier fängt es an, spannend zu werden. Bleibt der Stress im Büro oder nehmen wir ihn mit nach Hause? Ist das Zuhause Erholung oder ist es womöglich stressiger als die Erwerbstätigkeit? 

Wahrnehmungsübungen helfen, Klarheit zu schaffen. 

Wie geht es mir eigentlich? Wie fühlt sich mein Körper an? Welche Gefühle spüre ich in mir?
Was braucht mein Körper gerade?
Fühle ich mich nach Bewegung oder nach Ruhe, nach Alleinsein oder nach Gesellschaft? 

Die bewusste Wahrnehmung des eigenen emotionalen und körperlichen Zustands kann helfen, den Stress dort zu lassen, wo er seinen Ursprung hat. War meine Arbeit heute anstrengend? Waren die Kollegen nervig oder die Chefin ungerecht? Wie fühle ich mich im Kontext Arbeit? Die Wahrnehmung meiner Gedanken und Gefühle – und dabei ist es wichtig, sie nicht zu werten, sondern nur anzuerkennen, dass sie da sind – hilft, den Stress nicht weiter zu transportieren in die Familie, meine Beziehungen, mein Zuhause, meine Wohlfühlorte.

Wie funktionieren Übungen zur Selbstwahrnehmung?

Zum Einstieg kannst du mit partiellen Wahrnehmungsübungen beginnen. Dafür stellst du dir am besten einen Timer auf eine bis zwei Minuten. Nun lenkst du deine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle deines Körpers und nimmst diese einfach wahr. Beobachte, ob sich irgendetwas verändert. Ob sich etwas verändert oder nicht, ist gleichermaßen gut. Das nennt sich „nicht-bewertend wahrnehmen“. Gedanken, die sich während der Wahrnehmungsübung einstellen, lässt du einfach wieder ziehen, ohne auf sie einzugehen. 

Atemübung:

Lege deine Hände auf deinen Bauch unterhalb des Bauchnabels und schließe deine Augen. Atme so tief und ruhig, wie es für dich in diesem Moment möglich ist. Nimm ein paar Atemzüge und beobachte, wie die Luft in deinen Körper einströmt und wie sie deinen Körper wieder verlässt. Konzentriere dich nun auf deinen Ausatem. Wie lang ist er? Verlässt wirklich die ganze Luft deinen Körper? Fühlt sich das Ausatmen jeden Moment gut und angenehm an?

Nimm auch den Moment wahr, wenn der Ausatem beendet ist und du noch nicht wieder eingeatmet hast. Wann gibt dein Körper Signal, einzuatmen? Wie tief möchtest du einatmen und wo atmest du hin? Nimm noch ein paar Atemzüge und beobachte, ob sich dein Atem verändert. Lausche nun in dich hinein, ob du auch deinen Puls spüren kannst. Was macht dein Puls beim Einatmen und was beim Ausatmen? Atme noch ein paarmal aus und ein und öffne nun langsam deine Augen. Bewege ein wenig deine Füße und deine Hände und spüre noch einmal deinen körperlichen und geistigen Zustand. Gibt es eine Veränderung?

Spür-Übung

Lege deine Hand auf deinen Oberschenkel und spüre, wie sich die Wärme deiner Hand in dein Bein verteilt. Schließe die Augen und stelle dir die Umrisse deiner Hand auf deinem Bein vor. Was spürst du? Die Berührung der Hand auf dem Oberschenkel oder deinen Oberschenkel in der Hand? Kannst du jeden einzelnen Finger spüren?

Variante: lege die Fingerspitzen deiner beiden Hände gegeneinander und nimm jede einzelne Rille deiner Fingerabdrücke, die Wärme deiner Fingerspitzen, die Außenluft an deinen Händen genau wahr. Frage dich: mit welcher Hand spüre ich die jeweils andere? Kann ich meine Aufmerksamkeit bewusst von der einen Hand zur anderen wechseln?

Noch mehr Wahrnehmungsübungen findest du hier:

Body-Scan

Eine längere Wahrnehmungsübung ist der Body-Scan, eine Übung, in der du deinen Körper von den Füßen bis zu den Haarspitzen im Geiste „abscannst“. Zur Unterstützung kannst du dir dafür ein Audio oder Video aus dem Internet anhören, oder führst dich mit deiner inneren Stimme in eigenen Worten durch die Übung.

Mit deinen Füßen beginnend fragst du dich: wie fühlt sich diese Körperstelle an, wie nehme ich die Außenluft, oder die Kleidung an dieser Stelle wahr, wie ist die Temperatur, wie geht es meinem Körper dort? Je nachdem, wie viel Zeit du hast, kannst du langsamer oder schneller von den Füßen über die Beine, Hüften, Oberkörper, Arme, Hals, Schultern bis zum Kopf hochgehen. Ich gehe meist am Rücken hoch und am Bauch wieder herunter und bleibe unterhalb des Bauchnabels stehen, um die Übung mit der Wahrnehmung meines Atems zu beenden.

Wichtig ist es, während der Übung deinen Atem ruhig fließen zu lassen und ihn ohne Bewertung wahrzunehmen wie in der Atemübung weiter oben.

Stress und Burnout

Über die Auswirkungen von Stress in Beruf und Alltag gibt es im Internet jede Menge Informationen.
Hier einige interessante Links:
Uni Hamburg: Bunout ist out – Stress und Überforderung vorbeugen
AOK: Burnout: Wie merke ich, dass ich betroffen bin?
Frank Max: Burnout – die 12 Stufen in den Abgrund

zum Thema Stress im Berufsfeld Orchester habe ich im Mai 2024 eine Mini-Umfrage gestartet.
Alle Infos dazu und die Ergebnisse der Umfrage finden sich hier.

Smarte Wege gegen den Burnout (klinikradar.de)
„Ertappen Sie sich gerade selbst bei einer Reaktion wie: „Für diese ganzen Maßnahmen habe ich doch gar keine Zeit!“ Dann geht es Ihnen wie Vielen – denn schließlich liegt ja gerade in Stress und Zeitdruck eine Wurzel des Problems…“ (weiterlesen auf klinikradar.de)

Häufige Stressauslöser im Alltag und ihre Auswirkungen