Mentales Üben in der Musik

Veröffentlicht von Felicia Terpitz am

Wer regelmäßig mental übt, hat
mehr Freude beim Einstudieren,
mehr Sicherheit bei der Aufführung
und seine Sinne frei für die Musik.


Übelust statt Übefrust

Warum mentales Üben in der Musik zur Selbstverständlichkeit werden sollte

Manchmal scheint es, als übe sich die Musik in meinem Kopf ganz allein. Manchmal höre ich hin und lasse meine Hände mitspielen. Dieses innere Hören habe ich schon in meiner Jugend genutzt, um auf dem Weg zum Konzert mein Programm genau durchzugehen und sicher zu sein, dass ich jede Note absolut sicher auswendig kenne. Später im Orchesteralltag habe ich das „Üben im Kopf“ genutzt, um zeitsparend unterwegs meine Stimme zu lernen, und ich habe begonnen, Fingersätze und Bogenstriche mental zu entwickeln.

Das riesige Potenzial dieser Übeart lerne ich erst zu ermessen, seit ich mich als Mentaltrainerin mit neuronalen Vorgängen im Gehirn und Nervensystem beschäftige.

Inzwischen bin ich Spezialistin für mentales Üben. Ich kombiniere mentale Trainingsmethoden aus dem Leistungssport mit eigenen Lernerfahrungen beim Studium komplexer Musik und mit Beobachtungen aus meinem Unterricht, Coaching und Seminaren.

Zuallererst ist mentales Üben einfach praktisch: wenn wegen der Nachbarschaft um bestimmte Uhrzeiten nicht mehr musiziert werden darf, wenn es in der Hochschule mal wieder keinen Überaum gibt, oder wenn sich beim Probespiel 10 Kandidatinnen einen Raum teilen müssen – wer mental üben kann, ist klar im Vorteil.

Und doch hat mentales Üben noch längst nicht die Popularität und die
Anerkennung, die ihm eigentlich zustehen würde. Wie ist das möglich?

Wohl findet man Bücher mit genauen Anleitungen zum mentalen Üben von Musik mit vorbereitenden Entspannungsübungen, Notenbeispielen und Übungen für das eigene Training. Das Lesen dieser Bücher macht jedoch keinen großen Appetit auf die mentale Arbeit. Diese Art „Schreibtischarbeit“ mutet anstrengend und trocken an. Da greift man doch lieber wieder zum Instrument und umspült seine Ohren mit realen Klängen.

Aber:

  • Ist, was ich beim Üben so spiele, wirklich hörenswert?
  • Ist meine Aufmerksamkeit jederzeit dabei?
  • Kann ich alle Bewegungsabläufe, die musikalische Linie, meine Körperhaltung und das klangliche Output jederzeit im Blick behalten?

Ab einem gewissen Spielniveau ist Musikspielen wie Radfahren.  Man kann beim Tonleiterspielen Zeitung lesen und beim Auswendigspielen eines Repertoirestücks Fernsehen schauen (was man zum Testen der Reflexe manchmal auch ausprobieren sollte).

Im Gegensatz zu kognitivem Lernen findet motorisches Lernen jedoch allein durch die Wiederholung der Bewegung statt. Üben mit schwacher Aufmerksamkeit birgt die Gefahr, sich ungünstige Bewegungsabläufe und Fehler einzuüben. Somit ist es nicht nur ungenutzte Zeit, sondern kann tatsächlich Schaden anrichten.

Ein weiterer zu beachtender Faktor für erfolgreiches Üben ist der emotionale Zustand, in dem geübt wird. In meinen Seminaren spreche ich mit vielen Menschen über das Thema „Übefrust“. Frust kommt immer dann auf, wenn wir das Gefühl haben, dass der Einsatz von Zeit und Arbeit keine Verbesserung unserer Leistung bewirkt, oder dass Leistung im entscheidenden Moment nicht abrufbar ist. Es kann aber auch ein negatives Gefühl sein, das mit dem Üben eigentlich nichts zu tun hat, aber vor dem Üben nicht behoben wurde. Auch negative Gefühle werden „eingeübt“. Je mehr Frust beim Üben erlebt wird, desto höher ist das Risiko für Versagensängste oder Leistungseinbrüche auf der Bühne.

Erfolgreiches Üben heißt

  • mit Freude und ohne Umwege zum Lernziel gelangen
  • gleich die richtigen Töne treffen, ohne die ersten zehn Versuche in den Sand zu setzen
  • sich auch bei schwierigen Stellen körperlich leicht fühlen
  • stets in einer Qualität musizieren, die einem selbst Freude macht

Vom Leistungssport lernen

Zu beinahe jeder gängigen Sportart gibt es Bücher zum Training der mentalen Stärke und zum mentalen Techniktraining (Bewegungstraining). Diese mentalen Methoden können wir am Instrument oder der Stimme ganz hervorragend nutzen, um körperschonend und zeitsparend unsere Leistung zu steigern. Musik hat sehr viel mit Sport zu tun, aber leider wissen wir, die wir unser Leben der Musik widmen, meist viel zu wenig über unsere Muskeln, Sehnen und Gelenke, über optimale Bewegungsabläufe sinnvolle Entspannungstechniken und die Balance zwischen Training und Freizeit.

Das mentale Üben meiner Jugend war intuitiv. Ich hatte keine Idee von dem Potenzial dieser Technik. Heute kann ich meine mentalen Fähigkeiten zielgerichtet einsetzen und meine Übezeit maximal nutzen.

Mentales Üben heute beinhaltet

  • bewusste Visualisierung von Bewegungsabläufen
  • Arbeit mit inneren Bildern
  • Arbeit mit innerem Hören von Tonhöhen
  • Gestaltung von musikalischen Linien
  • Körperarbeit
  • Zielarbeit
  • Zeitmanagement
  • Umfeldarbeit
  • Elemente aus psychotherapeutischen Methoden
  • mentale Techniken, die regelmäßig in kleinen Sequenzen in die Arbeit mit dem Instrument integriert werden
  • Spezielle Interventionen, um innere Blockaden („ich kann keinen Rhythmus“,
    „Terzen sind schwer“) aufzuheben und durch positive Bilder und Codewörter zu ersetzen
  • Kurze Entspannungsmethoden gegen Alltagsstress

Wieso funktioniert dieses Training?

Unser gesamtes Denken, unsere Erinnerungen, unser Handeln, sowie geplante Handlungen werden von unserem Gehirn in Abfolgen innerer Bilder dargestellt (visualisiert). Wenn wir die Augen schließen und unsere Aufmerksamkeit nach innen richten, können wir uns Bewegungsabläufe im kleinsten Detail vorstellen (Beispiel: Zähne putzen. Wir fühlen die Bewegung der Hand, die die Zahnbürste hält, wir sehen die kreisende Bewegung, vielleicht spüren wir auch die Borsten auf dem Zahnfleisch und schmecken sogar den frischen Zahnpastageschmack.)

Wenn die innere Vorstellung mit allen Sinnen und in hoher Intensität stattfindet, unterscheidet das Gehirn nicht zwischen Vorstellung und Realität. Dank neuronaler Vernetzung werden die Impulse der inneren Bilder in die Muskeln und Gelenke gesendet und dort abgespeichert. So wird ein wirksames Training allein durch Kopfarbeit möglich. Wie jedes Training braucht auch mentales Bewegungstraining regelmäßige Übung, bis es gut funktioniert.  

Mentale Übemethoden sind Methoden zur Lerneffizienz, zur Entlastung des Körpers und zur Erhaltung der maximalen Aufmerksamkeit. Sie eignen sich, um technische und gestalterische Ziele zu klären und im Fokus zu behalten, um ökonomische und sinnvolle Bewegungen zu entwickeln und gewünschte Emotionen abzurufen. In der inneren Vorstellung entfallen physikalische Bedingungen und physische Konditionen. Der mentale Raum gehört ganz unserer Fantasie und alles wird möglich.

  • Wir können Superman sein, oder Pippi Langstrumpf
  • oder die ausdrucksstarke Künstlerpersönlichkeit mit wunderbarem Klang und technischer Leichtigkeit, von der wir immer geträumt haben.